Ein Kurzroman rund um Diversity und Nachhaltigkeit im Technologie-Bereich. Gespickt mit Fakten, Startups und echten Vorbildern.
Autorin: Alice N. York
Masha lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Überall blinkten die Anzeigetafeln auf, egal wo sie hinsah. Sämtliche Flüge waren plötzlich verspätet. Sie hatte so ein Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimmte. Irgendwie schien sie zurzeit öfters in der Luft zu hängen. Ihren Masterabschluss hatte sie in der Tasche. Was kam nun?
Wohin würde es sie nach der Technischen Universität in München verschlagen? In Portugal hoffte sie, Antworten zu finden. Ihr Flug von London nach Lissabon hätte schon vor über einer Stunde gehen sollen. Doch an den anderen Gates hatten sich ebenfalls lange Schlangen gebildet, ohne dass etwas voranzugehen schien.
„Achtung: wir haben einen Lock-Down. Bitte bewahren Sie Ruhe. Bleiben Sie in der Nähe Ihres Gates. Wir informieren Sie, sobald neue Informationen vorliegen”, kam die Durchsage aus dem Lautsprecher. Ein Mann am Fenster schimpfte auf das Übelste. Das Vorschulkind neben ihm drehte sich weinend zu seiner Mutter um. Stöhnen schlich durch den Raum. Doch die meisten Reisenden ergaben sich still der Ungewissheit. Es war fast, als ob diese Situation ein Symbol für etwas war. Nur wofür? Welche Überraschungen würde es noch auf der Reise geben?
Masha atmete tief durch und wickelte ihre langen, braunen Haare zu einem Knoten zusammen. Seit dem Abschied von ihrer Freundin Jelena in Boston war sie fünfzehn Stunden unterwegs. Im Flieger hatte sie nur wenig geschlafen. Doch solange keine Polizeihorden durch den Flughafen patrouillierten oder Panzer über das Flugfeld rollten, konnte es nicht so schlimm sein.
Kein Grund zur Panik also. Immerhin hatte sie so Zeit für noch einen Mocca. Sie schickte eine kurze Nachricht an Aldo, den sie in der portugiesischen Hauptstadt treffen wollte. Mit ihm hatte sie letztes Semester an einem länderübergreifenden Projekt gearbeitet. Vom Café gegenüber zum Gate zurück, lehnte sie sich an eine Säule.
„Gute Idee. Ich sollte mir einen Tee holen“, lächelte ein Mann neben ihr schüchtern. Ein Engländer, tippte Masha. Er war mit demselben Flug aus New York gekommen. Etwa zehn Jahre älter als sie, obwohl der kurzgeschnittene, gepflegte Vollbart auch täuschen konnte. Er trug keine Krawatte, sah aber nicht nach Technik-Nerd aus. Für einen Journalisten war er wiederum zu stilvoll angezogen und für einen typischen Gründer zu zurückhaltend. „Fühlt sich fast an wie in einem Krimi“, wandte sie sich ihm zu. „Das Leben schreibt oft die besten Geschichten“, erwiderte er lächelnd.
Graham war tatsächlich Engländer und Geschichten waren seine Leidenschaft. Er arbeitete für eine der renommiertesten Zeitungen der Welt. Masha war begeistert. Anfang 2014 hatte die Firma erkannt, dass Geschichten – wenn sie gut gemacht waren – ein sehr effektives Marketingtool für Unternehmen sein konnten. In New York wurde ein Brand Studio gegründet. Ein paar Jahre später kam Graham an Bord und unterstütze als Creative Director den Aufbau des internationalen Geschäfts.
Die strikte Trennung vom unabhängigen Redaktionsbereich der Zeitung war äußerst wichtig, um die Glaubwürdigkeit der Nachrichten zu erhalten. Masha dachte an Jelenas Mutter, die Journalistin war und erst kürzlich über das in China erste, genetisch veränderte Baby berichtet hatte. Wer würde so eine Geschichte ernst nehmen, wenn sie von einem Windel- oder Babynahrungshersteller gesponsort worden wäre?
Das Studio hatte sich erfolgreich entwickelt und war gewachsen, so dass Graham seit einiger Zeit von London nach New York umgezogen war. In der amerikanischen Industrie war Content Marketing bereits länger etabliert. Der Markt hatte weltweit die Vorreiterrolle übernommen. Daher standen alle Zeichen auf Expansion.
Es galt, Kunden in anderen Kontinenten von dem Nutzen zu überzeugen. Großbritannien war sehr schnell auf den Zug aufgesprungen, gefolgt von Frankreich und Italien. Letztere aus demselben Grund wie Hongkong und Südkorea: Luxusgüter eigneten sich hervorragend für die Integration in gute Geschichten. James Bond hatte das oft genug bewiesen. Das sah Masha sofort.
Die Projekte, an denen Graham mit seinem Team arbeitete, waren zwar keine Kinofilme, aber doch aufwändig gestaltete Kreationen, in denen Text, Bilder und oft auch Videos kombiniert wurden. Sie scrollte auf der Webseite des Studios durch die Geschichte einer Biermarke. Am Ende hatte sie jedoch nicht das Bedürfnis, gleich ein Bier zu kaufen. Beim Content Marketing ging es laut Graham in erster Linie auch nicht um das direkte Verkaufen. Es war nicht einfach eine größere Fläche für Werbeanzeigen.
Vielmehr wurde die Marke einer Firma in der Außenwirkung geschärft oder beeinflusst, wie eines ihrer Produkte vom Kunden wahrgenommen wurde. Ihre Leser stellten einen gewissen Qualitätsanspruch an die Beiträge. Die Kollegen aus der unabhängigen Redaktionsabteilung legten seit Jahrzehnten die Messlatte vor. Und die war sehr hoch.
„Wie entscheidet ihr, welches Format ihr für die Geschichten nehmt?“, wollte Masha wissen. Eine Flut an sozialen Medien oder Entwicklungen im Bereich virtuelle und erweiterte Realität boten ausreichend Möglichkeiten, Endkunden über verschiedenste Themen zu informieren. Aufgrund ihres Masters in Management und Technologie würde Marketing sicher eine Rolle für ihre zukünftige Arbeit spielen.
„Wir starten immer bei der Idee für die Geschichte und entscheiden erst danach über die Erzählform“, sagte Graham. Es hieße ja „Geschichten erzählen“ und da käme das wie erst an zweiter Stelle. Das mobile Internet hatte natürlich eine riesige Auswirkung gehabt, doch müsste jede Geschichte nicht immer in unterschiedlicher Form über alle verfügbaren Kanäle erzählt werden.
Bei Anwendungen wie Snapchat hatte die Leserin oft nur wenige Sekunden Aufmerksamkeit übrig, etwa in der U-Bahn auf dem Weg in die Arbeit. In der Mittagspause hingegen konnte sie schon mal eine lange Geschichte lesen, wenn das Thema interessant genug beschrieben war. Für die Idee war es wichtig zu wissen, welche Werte eine Marke bereits vermittelte oder welche Wahrnehmung die Firma erzeugen wollte.
Das war insbesondere wichtig nach Krisen. Welche Gefühle und Gedanken sollte der Leser am Schluss haben? Erreichte man das eher auf unterhaltsame oder informative Weise? Der Kern der Geschichte musste also denselben Wert haben wie die Markenbotschaft.
Drei Dinge waren entscheidend: eine Sache oder Person, um die es sich drehte, ein Konflikt und zum Schluss die Lösung. Graham verglich die Marketing-Geschichte mit einem ersten Date: Wenn man zu viel über sich selbst erzählte, würde es wahrscheinlich kein zweites Date geben. Erst wenn die Idee stand, entschied man sich für die Erzählform und passende Technologie. Ganz zum Schluss ging es um die Plattform zur Veröffentlichung. Davon war abhängig, ob man auch die Kunden erreichte, die man erreichen wollte.
Bewegung begann sich um sie herum breit zu machen. Über die Anzeigetafeln flimmerten auf einmal neue Abflugzeiten. Es schien, als sollten sie heute doch noch ihr Ziel erreichen. Die Geschichte des Lockdowns war vom Flughafenpersonal schnell erzählt. Drohnen waren über dem Flugfeld gesichtet und eliminiert worden. Die Sicherheit war wiederhergestellt. Es bestand keine Bedrohung. Boarding für ihren Flug nach Lissabon würde in Kürze beginnen. Gerade als sie ihr Handy ausschalten wollte, kam eine geheimnisvolle Nachricht von Aldo. Sie würde eine Überraschung erleben.
Masha zog den dicken Wollschal fester um ihre Schultern. Die Müdigkeit ließ sie frösteln. London verschwand langsam unter ihnen. Masha schloss die Augen und dachte an die letzten zwei Wochen mit Jelena. Früher waren sie snowboarden oder klettern gegangen, hatten geboxt und im Schwimmbad Kilometer zurückgelegt, bevor sie nachts die verschiedensten Bars der Universitätsstadt unsicher machten.
Eine Reise nach Las Vegas vor zwei Jahren hatte das Leben ihrer Freundin stark verändert. Wer hätte ahnen können, dass Jelena in den Kugelhagel eines Irren geriet und seitdem im Rollstuhl saß. Lachen war ihre liebste Beschäftigung gewesen.,Nichts hatte sie so leicht aus der Ruhe gebracht.
Doch Masha hatte bei diesem Besuch gemerkt, dass Jelena Schwierigkeiten hatte, die Dämonen der Erinnerung zu bekämpfen. Selbst der Umzug von Chicago nach Bosten hatte nicht viel bewirkt. Scheinbar aus dem Nichts heraus konnte sie tieftraurig werden und in Tränen ausbrechen. Oder eine Panikattacke raubte ihr die Luft. Was genau in diesen Momenten passierte und den Stimmungswandel auslöste, konnte Masha schwer nachvollziehen.
Medizin und Psychologie waren nicht ihr Fachgebiet, auch wenn sie bereits öfter ehrenamtlich Hilfsorganisationen unterstützt hatte. Ihr Ausflug mit Jelena zu den Niagara-Fällen letzte Woche war immerhin ein kleines Highlight gewesen. New York dagegen hatte eher etwas von einer emotionalen Achterbahnfahrt gehabt. Wenn sie ihrer Freundin doch nur helfen könnte. Aber wie?