Des Chamäleons Quotenfrau

Fallstudie
Eine erfolgreiche Frau in den Dreißigern, klassisch gestylt, der schwarze Anzug mit weißem Hemd harmoniert mit den kupferroten Haaren, gibt entlarvende Einblicke wie Diversity hinter den Kulissen eines Großkonzerns im Technologieumfeld beurteilt wird.

Nennen wir sie Alex Ruby. Unaufdringliches Make-Up und wenig Schmuck deuten darauf hin, dass sie in einer Branche arbeitet, die noch immer eine der größten Männerdomänen unserer Zeit darstellt. Ein Bereich mit wenig Diversity. Die Geschichte von Alex in Richtungswechsel umfasst all die interessanten Aufgaben und reizvollen Nebeneffekte, die ein Manager-Job im Umfeld von Innovation und Marktentwicklung mit sich bringt. Sie beinhalten aber auch ihre Erfahrungen zum Thema Diversity.

Das Team, in dem sie ihren Job als Beraterin voller Elan beginnt, besteht inklusive der Vorgesetzten ausschließlich aus männlichen, weißen Kollegen. Kollegen, die teilweise schon solange in der Firma arbeiten, dass sie die Produkte der ersten Stunde wie ein geliebtes Kind beim Namen nennen. Vielfältig gemischt ist dieses Team. Es gibt kleine, große, dicke, dünne Kollegen. Kollegen mit langen oder kurzen Haaren, Kollegen mit visionärem Weitblick oder intensiver Detailverliebtheit, überzeugte Singles und fürsorgliche Familienväter, selbstbewusste Redner und schüchterne Denker. Ein Kessel Buntes.

Ist sie die Quotenfrau? Oder zählt wirklich die langjährige Erfahrung in der Branche, über die sonst keiner im Team so verfügt wie sie? Letzteres ist es, definitiv, wird ihr mehrfach versichert.

Doch Alex Ruby macht sich dazu keinerlei Gedanken, denn das Thema Diversity ist zu diesem Zeitpunkt nicht einmal eine Randnotiz auf dem Radar. Seit ihrer Ausbildung hat sie fast ausschließlich mit Männern zu tun und es macht ihr Spaß. Sehr viel Spaß! Es ist der Traumjob. Wohl auch, weil sie den Wettbewerb schon immer geliebt hat. Immer wieder Neues zu lernen, Kunden auf der ganzen Welt von einem innovativen Produkt zu überzeugen und Aufträge zu akquirieren, ist für sie wie ein Spiel, das es zu gewinnen gilt.

Der Lohn ist in erster Linie nicht der dicke Gehaltsscheck. Vielmehr ist es die Anerkennung, die dem Gewinner winkt. Es ist die Bestätigung beim ungeschminkten morgendlichen Blick in den Spiegel, das ganz private „Yes, I can“-Lächeln, das jener fast schon aphrodisierend zurückgibt. Lange bevor solch ein Slogan in inszenierten Wahlkampagnen zur Überzeugung der öffentlichen Masse herhalten muss.

Schritt für Schritt baut Alex Ruby dicht verzweigte Netzwerke auf, nicht nur zu potenziellen Kunden und Partnern, sondern auch zu Entscheidungsträgern innerhalb der Firma. Harte Arbeit, Kreativität und selbstbewusste Visionen führen sie an faszinierende Orte rund um den Globus und zu interessanten Projekten. Die nächste Managementebene wird aufmerksam, nutzt die Erfolge zur eigenen Profilierung innerhalb der Hierarchie.

Warum auch nicht, Alex Ruby liefert bereitwillig neues Futter für die Oberen. Ist der Chef und dessen Chef positiv gestimmt ob der Fortschritte, ist das nur gut für das ganze Team. Unkenrufen, die den vorzeitigen Exitus beschwören, kann das Team so geschlossen entgegentreten, denn Zweifler stellen das neue Produkt regelmäßig in Frage.

Die Chefs sind jedenfalls zufrieden mit ihrem besten Pferd im Stall. Sehr zufrieden. Zug um Zug beziehen sie Alex Ruby bei bestimmten Entscheidungen mit ein, diskutieren mit ihr zukünftige Strategien. Sogar der nächste Karriereschritt wird früher als erwartet avisiert. Selbst für eine der seltenen, internen Auszeichnungen ist eines ihrer Projekte im Gespräch.

Mit Verwunderung nimmt sie den bei ihren Kollegen hervorgerufenen Unmut aus dem Augenwinkel heraus wahr. Jeder aus dem Team hat doch die gleichen Möglichkeiten, denkt sie sich. Alle können sämtliche Informationen nutzen, die sie pflichtschuldig mit ihnen teilt. Das ganze Team profitiert von den Projekten, die als Referenzen bei potenziellen Kunden angegeben werden. Wettbewerb stachelt das Geschäft erst richtig an.

Ein paar dunkle Wolken ziehen auf, aber den Sturm, der sich dahinter verbirgt, den sieht sie in ihrer von positivem Denken geprägten Naivität nicht. Das wird schon, sagt sich Alex Ruby. Das wird schon, meint auch die Chefetage.

Aber es wird nicht. Ein langer Leidensweg beginnt, mühsam und kräftezehrend, gerade weil er für sie als solcher nicht absehbar ist. Standpunkte und Meinungen um sie herum werden gewechselt, mehr als einmal, mit mehr Nuancen als das Farbspektrum eines durchschnittlichen Chamäleons aufweist. Doch im Gegensatz zur Tierwelt ist keine klare Kommunikationslinie auszumachen. Außer bei einigen Kollegen.

Deren Ansage ist so klar wie ein „five-by-five“ unter Funkern. Sogar die Nachricht, die nicht ausgesprochen wird. Wie die abgewendeten Blicke und die Sitzverteilung in Besprechungen. Oder das, was im Verborgenen, hinter vorgehaltener Hand und über dunkle Mobiltelefonkanäle passiert. Informationen, die nicht mehr dahin fließen, wo sie hingehören. Selbst bei den Kunden.

Alex Ruby fährt ihre Antennen aus, auf der Suche nach Hilfe. Aber wem kann sie trauen? Empfangen ihre Antennen auf der richtigen Frequenz? Kann sie die Signale eindeutig dechiffrieren? Es scheint, als stimme ihr Code-Buch nicht. Nicht für diese Art der Kommunikation.

Ihr bleibt nicht einmal die Mimese, um sich durch Nachahmung ihrer Umgebung zu tarnen. Das verbietet der Blick in den morgendlichen Spiegel. Er ist ihr oberster Richter, er entscheidet über die weitere Vorgehensweise und die Wahl der Waffen. Doch es sind keine fairen Waffen in Sicht, schon gar keine, die einen gleichwertigen Sieg für alle Beteiligten erahnen lassen. Denn etwas anderes macht keinen Sinn. Nicht für Alex Ruby.

Auch er ist nicht in Sicht, der weiße Ritter mit den wehenden Fahnen, der hilft, diese harte (Kokos-)Nuss zu knacken. Denn wer lässt sich schon auf ein, im besten Fall potentielles Remis ein, bei dem er doch alles verlieren könnte? Wie nur ist es möglich, die Firmenphilosophie und den Diversity-Gedanken zum Vorteil derer zu drehen, die doch eigentlich persönliche Konsequenzen tragen müssten?

Es bleibt letztendlich nur ein Weg, ein letzter Richtungswechsel, der dem prüfenden Blick des Spiegels standhält. Erhobenen Hauptes, aber ohne Verrat an Werten. Ein harter Cut. Aber ein Cut, der die Erfüllung von lang gehegten Wünschen zulässt, mit denen einen Traum verwirklicht werden kann. Ein anderer Traum.

Nur in den Tiefen des Bewusstseins bleibt eine Frage ungeklärt:

Gab es nur deswegen die letztendliche Lösung, weil Alex Ruby in der Lage sein will, sich morgens noch ihrem (weiblichen) Spiegelbild zu stellen? Weil sie nicht (mehr) zu der einen, von einem bekannten deutschen Soziologen[1] beschriebenen Sorte von Frauen gehört? Derjenigen, die halb zum Mann werden und ihre Weiblichkeit instinktiv verweigern muss, um Erfolg in der Männerwelt zu haben?

Richtungswechsel ist im Buchhandel als gedruckte Ausgabe und eBook erhältlich. Im Englischen erschienen unter dem Titel GAME-Faint Signals.

[1] Dr. Carsten Wippermann zitiert in: manager magazin – „Das Ende der Herrlichkeit„, 16.08.2010, Kapitel 4, Absatz 5.

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AutorAlice N. York
2023-09-27T11:34:34+01:00

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