Lenksysteme für autonom fahrende Fahrzeuge

Fachartikel

02. September 2015

Komfort und Sicherheit sind der Hauptantrieb für den technischen Fortschritt im Bereich automobiler Lenksysteme. Lange nachdem die manuelle der hydraulisch gestützten Servolenkung gewichen ist, hat mit dem Einzug elektronischer Systeme ein neuer Generationswechsel begonnen. Im April trafen sich rund hundert Experten zur we.CONECT Konferenz „Automotive Steering“ in Berlin und diskutierten Marktchancen und technische Herausforderungen.

Lenkungsart

Laut einer Studie von Frost & Sullivan unterscheiden sich die eingesetzten Lenksysteme in  Nordamerika und Europa deutlich. Dies lässt sich durch die Art der bevorzugt gekauften Fahrzeuge erklären. Während in Europa der Marktanteil von Fahrzeugen aus dem Kleinwagen- und mittleren Segment am größten ist, dominieren in Nordamerika Geländewagen und große Limousinen die Verkaufszahlen. Daraus resultiert in Europa das größte Marktpotential für Lenksysteme, bei denen die Servoeinheit im Lenkstrang (Column EPS) untergebracht ist, in Nordamerika hingegen für Systeme, die parallel oder konzentrisch um die Zahnstange (Rack EPS) montiert werden. Der aktuel in der Luxusklasse verwendeten Servoeinheit am Lenkgetrieberitzel (Pinion EPS) werden keine großen Zukunftschancen ausgesprochen. Wachsende Entwicklungskosten und vergleichsweise niedrige, fast stagnierende Stückzahlen stellen eine große Herausforderung für die Fahrzeughersteller dar. In Europa würden sich zwar mehr als ein Fünftel der Kunden für ein solches System entscheiden, allerdings nur zu einem Preis von etwa 500 Euro. Davon liegen Hersteller wie BMW mit Angeboten von etwa 1500 Euro weit entfernt, was den Anteil potentieller Käufer auf knapp fünf Prozent reduziert. Ford kommt mit rund 700 Euro den Wünschen am nächsten und hat damit Erfolgsaussichten bei gut zwanzig Prozent der Kunden. Dabei sind die möglichen Funktionen einer adaptiven Lenkung durchaus wünschenswert: Unterstützung und Schadensbegrenzung bei plötzlichem Ausfall der Lenkeinheit, Spurhalte- und Spurwechselassistenten oder teilautonomes Fahren im Stau und auf der Autobahn sowie selbsttätiges Einparken des Fahrzeugs. Erstrebenswert sollte daher die Entwicklung von kostengünstigen CEPS sein, die sich über strategische Partnerschaften realisieren ließe, in denen sowohl die Aufwände als auch die Erträge geteilt werden. In Asien kann aufgrund der unterschiedlichen Marktanforderungen kein Trend für ein einzelnes System gesehen werden, doch auch dort wird ein großer Bedarf für kostengünstige EPS-Systeme erwartet. Bei Schwerlastfahrzeugen müssen Lenksysteme zukünftig für Belastungen von bis zu 15 kN (Ford F150) oder sogar 24 kN (Volkswagen T-Modell) ausgelegt werden.

Die Leichtigkeit des Lenkens

Zwischen manueller und Servolenkung liegen bereits Welten, doch das ist längst noch nicht das Ende der Fahnenstange. Dank Elektronik können Lenkeigenschaften geschwindigkeitsabhängig ausgelegt oder Störungen durch Drehmomente vermieden werden. Auf dem noch langen Weg hin zu echten Steer-by-Wire-Systemen ohne mechanisches Backup haben die Entwickler um Oliver Nehls von Ford ein adaptives Lenksystem entwickelt, bei dem das  Fahrgefühl als noch angenehmer wahrgenommen werden soll. Hierbei wird über ein Überlagerungsgetriebe mit Elektromotor die starre Verbindung zwischen Straße und Lenkradwinkel gelöst. Je nach Lenktätigkeit des Fahrers wird bei niedrigen Geschwindigkeiten ein zusätzlicher Winkel als Overlay addiert oder bei hohen Geschwindigkeiten subtrahiert. So wird das Übersetzungsverhältnis geändert und die Positionierung der Räder beeinflusst. Erfolgt keine Lenkeingabe, wird das System über eine mechanische Verbindung gesperrt. Über diesen Kompromiss wird sowohl ein agiles Fahren bei niedrigen Drehzahlen und eine sichere Stabilität bei hohen Geschwindigkeiten als auch eine individuelle Personalisierung mit Komfort-, Normal- oder Sport-Modi ermöglicht.

Foto: Ford/Takata

Foto: Ford/Takata

Bei der Realisierung des Konzepts stellten besonders das Packaging und die Crash-Sicherheit Herausforderungen dar. Bestehende Systeme mit auf Ritzel montierten Planetengetriebe und Zwischenwelle waren nicht geeignet. Neben dem Ziel, verschiedenste Plattformen im Konzern mit kleinsten Änderungen an der Hardware und einfacher Portierbarkeit des Systems bedienen zu können, musste zusätzlich die Reibung minimiert werden, um einen hohen Grad an Exaktheit zu erreichen. Deshalb wurde ein modulares Konzept mit starr montierten Aktuatoren  verfolgt. In Partnerschaft mit der Firma Takata entwickelten die Ingenieure eine Lösung, die den gleichen Bauraum wie bisherige Systeme einnimmt und gleichzeitig die vorhandenen Schnittstellen nützt. Dies erforderte den Einsatz eines neuen Schleifrings in Kombination mit einem hochgenauen Lenkwinkelsensor. Das Ergebnis ist ein in das Lenkrad integriertes adaptives Lenkstellglied, das nicht nur zusammen mit dem  vakuumgefalteten Airbag untergebracht werden konnte. Auch alle notwendigen Armaturen und Schalter, die wiederum direkt mit dem verbauten und an den CAN-Bus angeschlossenen Steuergerät verdrahtet sind, fanden Platz. Das Schrägzahnrad wird durch ein Schneckenrad auf der Motorwelle in einem Verhältnis von 48:1 angetrieben. Der Motor ist ein bürstenloser Gleichstrommotor mit vier Polpaaren und redundanten Hallsensoren für die Positionierung. Motor und Getriebe folgen der Drehbewegung des Lenkrads. Bei null Grad Lenkwinkel wird das System durch Aktivierung eines Elektromagneten, der einen Stift in die Verriegelungsscheibe am Ende der Motorwelle bewegt, in eine fixe mechanische und vom Strom abgetrennte Verbindung verriegelt. Die neue Schleifringeinheit verfügt über einen redundanten Multiturn-Lenkwinkelsensor mit acht Bändern. Die Modularität des Systemdesigns ermöglicht es, weitere Funktionen als Plug-Ins hinzuzufügen. Zusätzlich bietet es für den Delta-Winkel eine generische externe Schnittstelle, die von anderen Steuergeräte wie ESP, EPAS oder Kamera genutzt und so eine Personalisierung des Fahrverhaltens durch das Lenksystem in Verbindung mit Fahrwerk, Bremsen und Antriebsstrang erzielt wird. Die ersten Fahrzeuge, die mit dieser adaptiven Lenkung ausgestattet werden, sind die Modelle EDGE, S.MAX und Galaxy. Doch durch die Modularität kann das System in alle Ford und Lincoln Fahrzeuge migriert werden. Beeinträchtigungen durch höhere Geräuschbelastung, da das System sehr nahe am Fahrer untergebracht ist, konnten durch die Wahl des Motors und der Antriebskomponenten minimiert werden. Reibung wurde mit Software kompensiert. Massenträgheit stellte kein Problem dar, da die Trägheit der Lenksäule so verändert wurde, dass keine Eigenfrequenz entsteht. Um herauszufinden, ob ein Fahrzeug über dieses adaptive Lenksystem verfügt, müssen Hobbyspione nur die Sechs-Uhr-Lenkradspeiche Uhr überprüfen. Ihre Verkleidung ist ihr Geheimnis.

Lenksysteme auf Diät

Gesetzliche Vorschriften und Erwartungen der Kunden hinsichtlich Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit setzen die Automobilhersteller unter Druck. Während mit einem elektrifizierten Antriebsstrang Abgase eliminiert werden können, spielt bei konventionellen Fahrzeugen neben Aerodynamik, Energiemanagement und Reibungsverlusten zur Straße hin die Gewichtsreduzierung einzelner Komponenten eine Rolle. So hat der PSA Konzern im Rahmen seines „Zwei Liter auf 100 Kilometer“-Programms die elektronische Servolenkung auf Abspeckkur geschickt. Hierbei wurde die Zahnstange hohl gedreht, da im Vergleich zu Hybrid-Materialien das beste Verhältnis von Kosten und Gewicht erreicht werden konnte. Das Material der äußeren Kugelgelenkte wurde anstelle von Stahl durch Aluminium ersetzt und damit bei gleicher Festigkeit ein Drittel des Gewichts eingespart. Bei der Untersetzung konnte Stahl sogar durch glasfaserverstärktes Polyamid (PA66) ersetzt werden. Strukturoptimierungen ließen das Aluminiumgehäuse fünfzehn Prozent leichter werden – Magnesium würde weiteres Potential bieten, ist jedoch noch zu kostenintensiv. Insgesamt konnte so das Gewicht der Lenkeinheit um auf schlankere achtzig Prozent des ursprünglichen reduziert werden.

Intelligente Redundanz

Foto: Dr. Amir Soltani-Cranfiled Universtity

Foto: Dr. Amir Soltani-Cranfiled Universtity

Neben Materialdiäten gibt es intelligente Ansätze zur Gewichtseinsparung, die sich speziell bei redundant benötigten Funktionen von immer autonomer werdenden Fahrzeugen zur Gewährleistung von Sicherheit und Komfort eignen. Im Rahmen seiner Masterarbeit an der Cranfield University untersuchte Dr. Soltani daher die Wechselwirkung von Fahrdynamikregelung (ESP) und elektronischer Servolenkung mit Assistenzfunktion. Denn beide Systeme wirken sich direkt auf die laterale Bewegung des Fahrzeugs aus: entweder durch  Aktivierung der vorderen Lenkeinheit oder von einzelnen Bremsaktuatoren. Dies zeigt, dass es bereits heute mehr Steuergeräte im Fahrzeug gibt, als eigentliche Vorgänge, die zu steuern es gilt.

Foto: Dr. Amir Soltani-Cranfiled Universtity

Foto: Dr. Amir Soltani-Cranfiled Universtity

Würde es daher nicht Sinn machen, eine übergeordnete Elektronikarchitektur zu entwickeln, in der einzelne Steuergeräte zusammengelegt und die Nutzung der Aktuatoren durch gezielte Koordination optimiert wird? Gleichzeitig müsste eine sogenannte integrierte Fahrzeugdynamik-Architektur (IVDA) flexibel anpassbar und rekonfigurierbar sein bei niedrigen Kosten.

Foto: Dr. Amir Soltani-Cranfiled Universtity

Foto: Dr. Amir Soltani-Cranfiled Universtity

In einem Hardware-in-the-Loop Prüfaufbau wurden aktive Lenk-und Bremskomponenten mit einem Fahrsimulator verbunden. Werte wie Gierraten, Fahrzeug- und Radgeschwindigkeit wurden virtuell eingegeben, Straßenverhältnisse simuliert.

Die Tests zeigten vielversprechende Ergebnisse hinsichtlich der Steuerung und Priorisierung einzelner Aktuatoren, die flexibel einzeln oder in Kombination angesteuert werden konnten. Die vorgeschlagene Architektur lässt sich ohne weiteres um zusätzliche Komponenten erweitern. Einen Versuch ist es mehr als nur wert.

Dieser Artikel wurde auch im Magazin ke-next (verlag moderne industrie – Mediengruppe des Süddeutschen Verlag) veröffentlicht.

Autor
AutorBritta Muzyk
2017-09-14T08:57:39+01:00

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